Volksbühne Berlin am Rosa-Luxemburg-Platz
 

Henry Hübchen zum 60. Geburtstag (sic):

Schade, dass ich nicht der Teufel bin

Ein Monolog (sehr schnell vorzutragen)

von Carl Hegemann


Carl: Was soll ich denn über dich schreiben?

Henry: Du kannst dir doch einfach was ausdenken.


Mein Problem

Es ist zum Verzweifeln. Ich muss alles selber machen. Ich kriege unwahrscheinliche Stoffe auf den Tisch, da stecken auch manchmal gute Rollen drin. Ich würde die gerne spielen, obwohl ich mich immer überwinden muss, denn man kann seine Zeit auch anders gut verbringen. Dann kommt das in die Hände von gefühllosen Menschen, die keine Ahnung davon haben, dass jeder Stoff etwas Eigenes verlangt, wenn er lebendig werden soll. Das sind die Drehbuchschreiber, die meistens irgendwelche Strukturmodelle, von denen sie irgendwo gelesen haben, auf jeden Stoff und jede Rolle anwenden und sich dann wundern, wenn ich das ablehne. Das verdirbt die Lust. Alles wird nivelliert, Stempel drauf und fertig. Etwas Abgestempeltes kann ich aber nicht spielen, da laufe ich leer und wundere mich nur. Das sieht man dann auch. Aber fast alles, was ich zu Hause an Drehbüchern und Vorschlägen liegen habe, ist so. Man sieht das schon von weitem. Das ist nichts. Das wird nichts. Man müsste das doch in der ersten Person angehen. Wenn man einen Text bearbeiten will, dann muss die erste Frage sein, was interessiert mich daran, warum habe ich das überhaupt weiter gelesen? Welche Elemente sind so besonders, das ich Lust habe, dafür Zeit zu opfern. Das Theater ist da auch keine Alternative mehr. Da gibt es auch diese „bewährten“ Muster aus der Aufstiegsphase und die werden für sakrosankt erklärt. Ich spiele immer noch drei Mal im Monat an der Volksbühne. Ich kann nicht leugnen, dass ich das irgendwie gerne mache. Drei Mal im Monat. Das ist wie drei Teller Suppe, die machen zwar nicht richtig satt, aber es ist gerade genug, dass der Magen nicht anfängt zu knurren und ich stattdessen schnell zwei Currywürste in einer Schale essen muss. Es ist aber auch nicht so viel, dass man sich schon wieder über die Zeitverschwendung ärgern muss. Denn so ein Abend ist ja extrem zeitaufwendig. Dreimal im Monat reicht, sonst muss ich wieder die ganze Zeit ins Theater, dann wird es wieder Fronarbeit. Erst wenn alle Stücke, in denen ich noch spiele, abgesetzt wären, müsste ich wieder was Neues im Theater anfangen. Um das Magenknurren zu besänftigen. Aber es gibt ja nichts Neues. Wahrscheinlich wäre an der Volksbühne das einzig Neue, wenn man was ganz Altes machen würde, Moliere in historischen Kostümen zum Beispiel. Der Prinzipal erklärt aber in der Presse, er suche ein Stück für Henry Hübchen und dann ist das „Dickicht der Städte“. Ich persönlich habe aber mit diesem Stück überhaupt nichts zu tun. Und ich bin zu alt dafür, einfach irgendwas zu machen – ich will schöne Dialoge, ich will mich irgendwo wieder finden, eine Aufgabe haben, die sich lohnt. Es hat sich ja genug Material angehäuft in 2000 Jahren Theatergeschichte und ich erlebe auch selbst so allerhand. Da müsste sich doch etwas draus machen lassen. Warum macht das keiner? Ja sicher, ich müsste es selber machen. Aber da ist ein Problem, dass ich nicht beseitigen kann, weil es all meinem Tun zu Grunde liegt: Faulheit. Ich bin zu faul, den Stift zu nehmen und das aufzuschreiben. Und wenn ich doch mal den Stift nehme und das aufschreibe, kann ich meine Schrift schon nach drei Tagen nicht mehr lesen. Und das ist auch eigentlich wirklich nicht meine Aufgabe.


Meine Aufgabe

Was ist denn meine Aufgabe? Meine Aufgabe ist, meine Haut zu Markte zu tragen und leider auch das was unter der Haut ist. Das ist mein Beruf, das ist meine Arbeit. Und diese Arbeit ist zwar manchmal reizvoll aber sie ist entfremdet. Was ist das eigentlich, was man da macht? In diesem Beruf? Zu sagen, man wüsste das, ist pure Behauptung. Nur eins ist klar: Man ist fremdbestimmt. Je größer die Rolle desto größer die Fremdbestimmtheit. Es sagen ja alle, dass man sich selbst einbringen kann, dass man die Rolle nutzt, um seine eigene Persönlichkeit auszudrücken, um Dinge zu tun, die an Wahrheit oder Wahrhaftigkeit alles, was man sonst tut, in den Schatten stellen. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Ich weiß überhaupt nicht, was ich spiele, ich weiß nicht, was da rüber kommt. Ich will es auch nicht wissen. Ich habe Angst mir meine eigenen Sachen anzusehen. Wenn ich mich mal bei Wiederaufnahmen in der Videoaufzeichnung ansehen muss, stelle ich fest: die Wirkung ist komplett anders als ich sie mir beim Spielen vorgestellt habe. Ich kenne die Aufführungen nicht, in denen ich spiele, ich habe nicht eine einzige gesehen. Wie auch? Ich schaue mir auch meine Filme nicht an, es wäre mir unerträglich. Unsterblich auf Zelluloid gebannt, mit allen Schwächen und Fehlern, ohne die geringste Möglichkeit etwas zu ändern. Das ist nicht die Unsterblichkeit durch das Medium, das ist der Tod. Denn tot ist man, wenn man nichts mehr ändern kann. Die Filmkonserven sind Urnen mit der Asche toter Schauspieler, da kommt nichts Neues mehr in alle Ewigkeit. Dass Menschen sich ihre eigenen Sachen anschauen, womöglich noch mehrfach, ist mir völlig unverständlich, es ist mir unheimlich. Man muss sich schützen, vor solchen Schrecken.


Meine Technik

Ich möchte keine tote Ordnung aber auch kein kreatives Chaos. Nein, ich möchte schon Ordnung, vielleicht lebendige Ordnung? Gibt’s das? Ich arbeite immer rein handwerklich, man muss alles üben, Ausrutschen z.B. auf etwas Rutschigem, das muss man technisch herstellen, das geht nicht anders, das muss man vorher absprechen. Ich bin bei Proben, bei der Vorbereitung Perfektionist, ich brauche genaue Absprachen, wie die Artisten im Zirkus auf dem Trapez. Das muss geprobt werden. Das muss man durch Üben in den Körper kriegen. Aber das findet nicht statt. Alle meinen, ich kann das von selbst. Man unterstellt mir eine „geniale Körperlichkeit“. Aber wenn das Timing nicht stimmt, nutzt das gar nichts. Ich gehe aus der Tür auf die Bühne und ein Kollege geht gleichzeitig durch dieselbe Tür von der Bühne ab. Er soll mir die Tür vor den Kopp knallen. Aber das klappt nie. Das Timing stimmt nie. Dann reiße ich die Tür lieber selber auf und hau sie mir selbst vor den Kopp. Das ist natürlich ein ganz anderer Vorgang. Dann bin ich eben der blöde Schauspieler, der sich selber die Tür vor den Kopp haut. Das passt dann gut zur Figur. Nur weil wir keine Zeit haben, das ordentlich zu probieren. Der Regisseur denkt gar nicht daran, dass wir proben müssen, er macht die Probebühne zu seinem Schreibtisch, der macht sich fünf Wochen Gedanken über seine Inszenierung während der Proben. Und alle andern quälen sich rum und warten, dass er seine Arbeit macht. Die hätte er eigentlich schon lange vorher zu Hause machen können, aber er muss uns ja sehen, er will ja uns persönlich inszenieren, und er kann das nur, wenn wir da oben stehen und seine Phantasie anregen, indem wir uns quälen. Er weiß ja, was für uns richtig ist, nicht nur was für unsere Rollen wichtig ist, sondern was für uns selbst, die Schauspieler wichtig ist. Es dauert mindestens fünf Wochen, bis er das alles halbwegs zusammen hat. Und dann haben wir noch maximal eine Woche Zeit, um das in den Körper zu kriegen. Und dann rettet man sich durch Hochstapelei, Frechheit und manchmal Humor, wenn der einem nicht schon längst vergangen ist. Texte müssen wir uns selbst ausdenken. Immer werden Fremdtexte versprochen, die dann aber nicht kommen, ich sage dann einfach irgendwas, das war schon bei den „Räubern“ so, ich habe einfach irgendwas erzählt, weil kein Text da war und wenn mir nichts eingefallen ist, habe ich einfach irgendwelches Kauderwelsch abgesondert oder nur vor mich hingebrummt, das war O.K. Da kam von unten keine Kritik, das war dann bei der Premiere immer noch so und in den nächsten 50 Vorstellungen. 


Mein Alltag

Bei „Meister und Margarita“ sollte ich Voland spielen, den Teufel. Den Teufel als Zauberer anzulegen, wie das der Roman von Bulgakow nahe legt, auf der Bühne als Zauberkünstler zu stehen, ist fürchterlich. Das wollte ich nicht. Ich habe gedacht, der Teufel denkt in ganz anderen Kategorien, für den sind 300 Jahre keine lange Zeit, weil er schon über 1o.ooo Jahre auf der Welt ist und auch schon alles kennt. Was da in Moskau passiert, ist für ihn nichts Besonderes, und deshalb wollte ich eigentlich den ganzen Abend nur im Bett liegen, ich fühlte mich auch in der Zeit gesundheitlich nicht richtig auf der Höhe, das wäre konsequent gewesen und hätte auch gut funktioniert, schließlich waren da noch fünf andere Teufel, an die hätte ich alles delegieren können: alle Texte und alle Zauberei. Einmal, wenigstens auf der Bühne, ALLES delegieren. Einfach mal gar nichts tun auf der Bühne, das wäre mir am liebsten gewesen und hätte gleichzeitig gut gepasst zu diesem Teufel. Am Ende war es doch wieder nur ein Kompromiss. Aber im Theater kann man wenigstens mal auf so einen Gedanken kommen. Die meisten Filme lassen das nicht mal als Gedanken zu. Da wird schnell alles falsch: falsche Besetzung, besonders die Frauen werden häufig nach ganz seltsamen Kriterien besetzt, falscher Anspruch an den Realismus, keiner kann sagen, was da der Realitätsbezug ist und, wie schon gesagt, Drehbücher, die weder ihrer eigenen Logik noch menschlichen Bedürfnissen folgen.
Das Schlimmste aber ist, dass du als Schauspieler aufgeschmissen bist, wenn du anders denkst als der Regisseur. Dann hast du keine Wahl. Dann bedienst du eben die fixe Idee, die der von dir hat oder nicht hat. Es bleibt dir gar nichts anderes übrig, als zu versuchen, es den directors recht zu machen. Am besten ist es dann aber, wenn es dir nicht gelingt, es ihnen recht zu machen, dann kommt etwas dabei heraus, das nicht geplant und absehbar war. Mir gelingt das fast immer, dass es mir nicht gelingt. Und darin liegt vielleicht das Geheimnis meiner kontinuierlichen Erfolge als Menschendarsteller. Ich funktioniere eben nicht, wie ich soll, ich passe nicht in dieses Funktionssystem. Ich passe überhaupt nicht in irgendwas. Ich passe nicht in die Talkshows, zu denen ich in den letzten Jahren öfters eingeladen werde, oder in die Kochshows und Schönheitskonkurrenzen, deren Juryvorsitz ich übernehmen soll. Ich passe nicht in die Gerichtsverhandlungen, in denen ich mit Hilfe des Rechtsschutzes mein Fahrverbot wegen minimaler Geschwindigkeitsüberschreitungen von zwei auf einen Monat runterhandeln muss, ich passe nicht auf Partys, Agenturfeste, Filmpremieren und Preisverleihungen.     


Mein Adressat

Und ich passe nicht zu meinem Alter. Wenn mein Regisseur, der auch schon tief im sechsten Lebensjahrzehnt steht, und mit dem ich 25 Jahre Theater gemacht habe, behauptet, biologisch fühle er sich wie 28, fühle ich mich biologisch wie 27. Ich passe allerdings auch nicht in die Welt der 27jährigen. Ich weiß nicht, in welche Welt ich passe, und ich weiß nicht, für wen ich den Teufel spiele, für wen ich alle diese Erniedrigten und Beleidigten spiele. Jedenfalls nicht für den Regisseur und auch nicht für mich. Vielleicht für das Publikum? Nee. Vielleicht gibt es einen „unbekannten Betrachter“, sagt Boris Groys, den niemand je gesehen hat, der aber irgendwo sitzt und sich das alles genauer ansieht als jeder Kritiker, vielleicht ein Gott oder ein Teufel, vielleicht spiele ich für den. Ich will es gar nicht wissen.


Mein Selbst

Als ich in „Meister und Margarita“ den Teufel spielte oder nicht spielte, kam mir ein seltsamer Gedanke. Ich hielt es auf einmal für möglich, dass ich nicht Henry bin, der den Teufel spielt, sondern dass ich der Teufel bin, der Henry spielt – das wäre es vielleicht gewesen. In dieser Inszenierung gab es das Prinzip, dass alle zwei Figuren spielen und sich selbst. Neben dem Teufel und Henry war das bei mir noch der römische Geheimdienstspitzel Afranius. Ich bin in „Meister und Margarita“ ein teuflischer Spitzel, der Henry Hübchen spielt. Dass Henry gespielt wird, ist ja klar, aber ob es wirklich der Teufel ist, der ihn spielt? Es wäre ja schön. Manche halten sich für Napoleon, manche für Jesus oder wenigstens für einen der 36 Gerechten, die nach altjüdischer Lehre die Welten zusammenhalten, das lässt sich alles erklären, warum sollte ich mich nicht für den Teufel halten? Erklären ließe sich das bestimmt auch. Aber ich schrecke zurück vor den Konsequenzen. Sie wären unabsehbar und unkontrollierbar. Ich wäre ja als Teufel schon 10.000 Jahre alt, ich wäre dabei gewesen als Jesus Christus an Kreuz genagelt wurde, als Pilatus seine Hände in Unschuld wusch und sein Schicksal besiegelte. Als in St. Petersburg der Zar ermordet wurde, wäre ich auch dabei gewesen. Ich war der Killer. „I killed the Zar and his ministers, Anastasia screamed in vain.” Ach Gott. Auch Mick Jagger hat sich mal probeweise für den Teufel gehalten nach der Beschäftigung mit  „Meister und Margarita“. In der Biografie seiner damaligen Freundin Marianne Faithful kann man das nachlesen. Der Teufel war einfach die attraktivste Figur in dem Roman. Ich musste mir also eingestehen, dass ich immer noch mit Neid (ja Neid) auf Mick Jagger schaue und es als Verhängnis empfinde, dass die Volksbühne ein Theater geblieben ist, mit allem, was da dran hängt und es nicht geschafft hat, einfach die größte Rockband aller Zeiten zu werden. Es nicht mal probiert hat, muss man leider sagen.   


Meine Weisheit

Hier müsste nun Weisheit einsetzen, die es mir ermöglicht, mit solcher Unbill fertig zu werden. Aber Weisheit fällt schwer: Wenn ich mich für den Teufel halte, bin ich genauso weit von ihr entfernt, wie Henry. Und das bringt mich zu dem Ergebnis, dass es egal ist, wer ich bin, die Probleme verändern sich zwar mit dem Standpunkt, den ich einnehme, aber sie sind immer gleich unlösbar. Nehme ich an, ich wäre der Teufel, der ewige Gegenspieler Gottes und wie dieser unsterblich, würden mir diese Ewigkeit des Leidens, das Bewusstsein nicht sterben zu können und über tausende von Jahren immer das gleiche Scheitern zu erleben, das Leben zur Hölle machen wie dem fliegenden Holländer. Das ist zumindest nicht weniger schlimm als das Elend von Henry, dem Sterblichen, der nicht umhinkommt einzusehen, dass er eines Tages in nicht allzu ferner Zukunft, einfach weg ist, nicht mehr vorhanden, eingegangen ins Nichts, eine Nachwelt hinterlassend, die an alles andere denkt, als Kränze zu flechten für die Mimen.
Wenn ich der Teufel bin, ja selbst wenn ich Gott bin, habe ich ein großes Problem, nämlich, dass ich nicht sterben kann. Und wenn ich Henry bin, habe ich auch ein großes Problem nämlich, dass ich sterben muss. Welches Problem das größere ist, weiß ich nicht. Aber ich vermute mal das Problem Gottes und des Teufels ist das größere. Warum hat Gott sonst seinen eigenen Sohn von Menschen ermorden lassen? Weil Gott seine Unsterblichkeit nicht mehr ertragen konnte, ist er Mensch geworden und als Mensch gestorben. Dass er dann wieder auferstehen musste, ist, so betrachtet, ein Rückfall, den Gott vermutlich bereut hat.
Also ziehe ich es vor, Henry zu bleiben, sterblich, unzufrieden und voller Angst, jenseits von Gott und Teufel. Da fühle ich mich eigentlich ganz wohl. Tatsächlich. Am wohlsten fühle ich mich, wenn ich absolut verzweifelt bin. Wenn ich das vollkommene Verhängnis vor Augen habe und alle Fluchtmöglichkeiten verschlossen sind, dann durchrieselt mich ein Glücksgefühl, weil ich in diesem Augenblick erlebe, was es heißt ein Mensch zu sein. Dann fühle ich mich frei.
Unter meinen Mitmenschen sehe ich überall diese verzweifelten Optimisten, die sich an ihre Hoffnung klammern, an ihre Pläne und an den Satz „Alles wird gut“. Es gibt nichts Schrecklicheres als diese verzweifelten Optimisten. Umgekehrt funktioniert es besser. Nichts wird gut. Optimistische Verzweiflung. Das ist Leben. Das erst bringt Freiheit.
An den Tod brauchen wir also nicht zu denken. Wenn wir niemals sterben müssten, wäre alles mindestens genauso schlimm, wenn nicht noch schlimmer. Die Unsterblichen können uns leid tun, die Sterblichen auch. Was soll’s? Wahrscheinlich müssen wir uns irgendwo zwischen beiden Polen einquartieren, so ähnlich wie der Derwisch, dem Kleists Prinz von Homburg folgt: „Das Leben nennt der Derwisch ein Reise. Und eine kurze. Freilich! Von zwei Spannen über der Erde nach zwei Spannen drunter. Ich will auf halbem Weg mich niederlassen!“  


Mein Weg

Dass die Reise kurz ist und immer kürzer wird, dass man schon so alt ist, ist das Problem: wie gesagt, nicht biologisch, aber mathematisch. Das Alter ist kein biologisches Problem, es ist ein mathematisches Problem: unsere Zeit rast immer schneller und das heißt, die Jahre werden in Relation zur Lebenszeit immer kürzer. Als ich fünf Jahre alt wurde, hatte ich seit meinem letzten Geburtstag ein ungeheuer langes Jahr hinter mir. Es bestand aus einem Fünftel meines gesamten bisherigen Lebens und das ist im Verhältnis zu diesem bisherigen Leben eine enorme Zeitspanne und das habe ich auch so empfunden, allein die Zeit zwischen Weihnachten und meinem Geburtstag – keine zwei Monate – erschien mir damals unendlich lang, fast unerträglich lang. Die Zeit von meinem 59. bis zu meinem 60. Geburtstag dagegen vergeht, obwohl sie genau wie damals 365 Tage mit je 24 Stunden umfasst, unendlich viel schneller. Von Weihnachten bis Ostern ist es nur ein Sprung und dann ist das Jahr auch schon fast wieder vorbei. Kein Wunder, denn bei diesem Jahr handelt es sich gerade mal um ein schlappes Sechzigstel meiner bisherigen Lebenszeit, das sind noch nicht mal zwei Prozent, das ist nichts, das verschwindet wie eine Rakete, verglichen mit den 20 Prozent, die mir mein fünftes Lebensjahr ziemlich lang hat vorkommen lassen.
Mathematisch kann ich dieses Problem nicht lösen, ich bin kein Mathematiker, aber vielleicht mit … kluger Lebenspraxis. Ich muss diese ein bis zwei Prozent in den nächsten Jahren in eine Relation bringen, die sie wieder auf 20 Prozent aufbläst. Jedes Jahr, das ich noch lebe, soll dieser Beschleunigung ein Schnippchen schlagen, die Zeit soll sich dehnen. Ja.
Das heißt nichts anderes als: ich will zum Zeitempfinden des Fünfjährigen zurück. Wenn mir das gelingt, habe ich selbst dann, wenn mich bereits vor Erreichen des Pensionsalters das Zeitliche segnen sollte, noch eine ziemlich lange Spanne vor mir. Wie man das macht, wie ich das bewerkstellige? Ich weiß es noch nicht, aber ich habe so Ahnungen. Ich muss wahrscheinlich einfach geiziger werden. Nicht was das Geld betrifft, da bin ich nicht geizig, war ich auch nie. Obwohl es öfters behauptet wird. Das sind Unterstellungen von Leuten, die mit Geld Probleme haben, was ich nie hatte, ich habe immer mit Geld um mich geschmissen und werde das auch weiterhin tun. Geizig muss man werden in Bezug auf Zeit und Liebe. Ich werde zunehmend mit Zeit geizen, mit meiner Arbeitskraft geizen, ich mache einfach nichts mehr, oder zumindest nichts mehr, was ich nicht wirklich will, dann müsste sich die Zeit wieder ausdehnen, wie in der Kindheit, das nächste Jahr wird mir dann vielleicht schon wie zehn Prozent, das übernächste wie fünfzehn Prozent vorkommen und so weiter. Die Beschleunigung der Zeit, die exponentiell wachsende Verkürzung der Jahre muss gestoppt werden. Und zwar durch Geiz. Man geizt mit Arbeitskraft, auch mit Liebe, nicht mit Geld. Dann dehnt sich die Zeit wieder aus, solange und so weit man will.
Überall werden Akten gefälscht und überall arbeiten korrupte Leute nicht nur bei Siemens und bei der Stasi, auch bei denen, die das aufdecken, die das anklagen, auch bei denen, die das in Kunst verwandeln. Wir sind nicht die Guten, auch wenn wir nicht der Teufel sind. Aber das darf mich nicht interessieren, das hat mich als Fünfjähriger nämlich auch nicht interessiert. Wenn ihr nicht werdet wie die Fünfjährigen, hat Jesus, der Menschensohn gesagt, dann schrumpft eure Zeit auf ein Prozent. Auf halbem Wege wieder langsam werden, das ist wichtig. Das könnte vielleicht gehen und wenn nicht: auch egal. Jeder melkt die Kuh, solange er kann.


Mein Glück

Mit Zeit und Kraft geizen ist richtig, aber auch mit Liebe geizen? Hört es da nicht irgendwie auf? Leider ist auch der Liebesgeiz nötig und unvermeidbar, denn die verschwenderische Liebesgeschichte ist der Zeitverkürzer schlechthin, wenn man liebt, einen Menschen oder eine Sache oder eine Aktivität, merkt man nicht wie die Zeit rast, denn man selbst rast mit der Zeit mit, überholt sie vielleicht sogar. Man verliert jede Todesfurcht. Das macht leichtfertig. Dinge wie Liebestod oder, vielleicht harmloser, Verblödung sind die Folge. Liebe hat etwas Asoziales und Vernichtendes. Sie suggeriert Unendlichkeit: unendliche Zeit, unendliche Macht, unendliche Möglichkeiten und lässt einen sich gleichzeitig mit allem abfinden. „Grenzenlos und tief wie das Meer“ unterscheidet die erfüllte Liebe nicht zwischen Geben und Nehmen, zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Wer glücklich liebt, wünscht nichts mehr, weil er alles hat. Wer aber alles hat, könnte genauso gut tot sein. Wir müssen mit der Liebe geizen, indem wir die Augenblicke erfüllter Zeit auf ein Minimum reduzieren. Gott sei Dank passiert dies meistens schon ganz von alleine. Zuviel Glück macht unglücklich, hat Jacques Derrida kurz vor seinem Tode gesagt, weil es uns an den Tod erinnert. (Warum das? Wenn man glücklich ist, fehlt einem nichts. Wenn man aber morgens aufwacht, und einem nichts fehlt, ist man wahrscheinlich tot, sagte ein anderer bedeutender Schriftsteller, war es Ephraim Kishon?) Beim Unglück ist es anders. Das Unglück erinnert uns an das Leben und dehnt die Zeit. Also keine Angst vor dem Unglücklichsein. Es ist besser als sein Ruf


Meine Agenda

Optimistische Verzweiflung. Beschleunigte Verlangsamung. Verdichtung. Glück im Unglück. So etwas steht jetzt an. Irgendwas von der Art. Ich merke, das wird Arbeit für mich. Ich muss es selber machen. Wie alles. Wie immer. 

Henry: Hm. Ich hatte eigentlich mehr an so lustige Theateranekdoten gedacht oder eine hochphilosophische Analyse meiner Arbeit. Zumindest für das zweite wärst du doch prädestiniert, um mich in die Theatergeschichte rein zu schreiben.

Carl: Ach so,

Henry: Was, ach so? Du hast wieder mal nur an dich gedacht, nutzt die Gelegenheit und willst dich hier als Stückeschreiber profilieren, genauso wie F. C., der in einer Laudatio auf mich nur von sich gesprochen und mich nur mit ein paar negativen Adjektiven bedacht hat.

Carl. Moment mal…

Henry: Nix Moment mal. Jeder, der das liest, denkt doch, du hättest mir hier einen Schlüsseltext auf den Leib geschrieben. Da kannst du lange warten, dass ich das spiele, du Philosoph.



20. Februar 2007

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