Volksbühne Berlin am Rosa-Luxemburg-Platz
 

Das Denkzeichen. Vollelektronische Kolumne für Zeitgeist und Realitätszuwachs. Redaktion Thomas Martin

DIE VERBORGENE WAHRHEIT

In einem chinesischen Krankenhaus, so konnte man auf YouTube sehen, verließ eine Seele den Körper einer toten Frau. Diese Seele rührte mich zutiefst in ihrer Menschlichkeit, mit der sie zögerlich aus dem Körper kroch, dann einen Moment über ihrer ehemaligen Wohnstätte verharrte, so als wolle sie Abschied nehmen, um sich schließlich mit einem Ruck loszureißen und immer schneller und schneller nach hinten in dem dunklen und ungastlichen Krankenhausflur zu entschwinden.

Die Diskussion der Betrachter entzündete sich an der Frage, ob es sich bei diesen Aufnahmen um eine Fälschung handelt oder nicht, aber ich fragte mich, ob das die wirklich entscheidende Frage ist, denn was wäre gewonnen, wenn man herausfände, dass jemand diesen Film entsprechend präpariert hat oder mehr noch, dass er authentisch ist, so lange es nicht gelingt, die viel entscheidendere Frage zu beantworten, welche Sehnsucht nämlich hinter dem Wunsch steht, eine Seele, das heißt das Wesen eines Menschen, zu erkennen?

Ist es nicht eigenartig, dass der Kampf um Wahrheit und Fälschung, um Beeinflussung und Unabhängigkeit aufs Neue und in zuvor kaum geahnter Stärke entbrannt ist, jedoch beinahe unabhängig, vielleicht sogar ganz bewusst losgelöst von der Frage, welche Bedeutung Wahrheit für den Einzelnen hat? Wahrheit, und das macht sie verdächtig, wird in diesem Kampf als Machtinstrument verstanden und interpretiert, womit nicht ihr Wahrheitsgehalt, sondern vielmehr ihre Zweckmäßigkeit im Vordergrund steht.

Adenauer nahm eine Dreiteilung der Wahrheit vor, in einfach, rein und lauter und sprach an anderer Stelle davon, dass es eine Wahrheit für das Volk, eine für die Regierenden und eine gebe, die er selbst nicht kenne. Zu dieser Zeit schien die Machtstruktur noch in Takt, das heißt fest mit der Wahrheit verknüpft, die gleichzeitig eine spezifische Struktur der Gesellschaft entwarf: Dort das unwissende Volk, hier der wissende Herrscher und über und in direktem Kontakt zu ihm Gott, mit seiner eigenen und unergründlichen Wahrheit. Als Lothar de Maiziere sich nach einem Attentat ganz im Sinne Adenauers äußerte, nämlich dass er im Besitz einer Wahrheit sei, deren Preisgabe das Volk jedoch ängstigen würde, musste er merken, dass der Wahrheitsbegriff der Adenauer Ära nicht mehr so ohne weiteres hingenommen wird.

Geglaubt wird er von weiten Teilen der Bevölkerung allerdings immer noch. Allerdings anders bewertet, denn es heißt jetzt: Es gibt eine von der Regierung für das Volk ausgeteilte Wahrheit, die keine Wahrheit ist, sondern das Gegenteil, nämlich eine Fälschung. Weiter gibt es eine Wahrheit für die Regierenden, das ist bestenfalls eine Halbwahrheit und schließlich die wirkliche unergründliche Wahrheit, von der nur einige Auserwählte im Hintergrund wissen.

Da man von alledem nichts beweisen kann, hat sich der Wahrheitsbegriff verlagert, Wahrheit definiert sich hier ex negativo und bedeutet: Ich weiß, dass alle mir verkündeten Wahrheiten nicht wahr sind, es aber eine Wahrheit hinter alldem gibt, den ich jedoch selbst nicht in der Lage bin zu erkennen. Dieser Wahrheitsbegriff ist folglich ein religiöser.

Man hat beim Betrachten der oft verzweifelt brüllenden und sich jeglicher Diskussionen entziehenden Menschen nicht den Eindruck, dass ihre Wahrheit, so wie es die Bibel verheißt, sie frei gemacht hätte. Es scheint ihnen nicht zu genügen, selbst im Besitz der Wahrheit, genauer des Wissens um eine hinter allen Unwahrheiten existierende Wahrheit, zu sein. Ihre Wahrheit scheint nur dann als Wahrheit existent, wenn alle anderen sie auch anerkennen: Eine Wahrheit, die keinen Widerspruch und keine andere Wahrheit neben sich duldet. Damit teilen diese Demonstranten ihren Wahrheitsbegriff mit den Terroristen, die sich auf den Islam berufen.

Wenn man sich einmal das griechische Wort für Wahrheit anschaut, Aletheia, so ist das Interessante an dem Begriff die Negation am Wortanfang, das a privativum. Wahrheit ist den Griechen demnach das Nicht-Verborgene oder das Unverborgene, wie Heidegger sagen würde. Beharren die Demonstranten auf den Straßen, die als rechts eingeordnet und die Blogger und YouTuber, die als Verschwörungstheoretiker abgetan werden, aber nicht auf einer verborgenen Wahrheit, einer Wahrheit, die versteckt hinter allem liegt? Sie lehnen das Konzept der Wahrheit als einem Prozess der Enthüllung ab, denn allein die verborgene Wahrheit rechtfertigt ihre Intoleranz allem Fremden gegenüber und ihre Wut und legitimiert die Abschottung und Abkapselung innerhalb einer geschlossenen Ideologie. Ihre Wahrheit ist eine Wahrheit, die unfrei macht. Sie haben eine Unfreiheit mit einer anderen vertauscht und wundern sich, dass ihre Wut nicht nachlässt. Ihre Wut soll auch nicht nachlassen. Ihre Wut soll zu keinem Ende kommen. Genau das garantiert ihnen diese verborgene Wahrheit. Diese verborgene Wahrheit, an die sie wie ein Dogma glauben, stattet sie mit dem Recht aus, andere Menschen zu diffamieren und auszugrenzen. Um mehr geht es nicht. Hier ist eine Ideologie der Unterdrückung am Werk, die sich über Fesseln beklagt, doch nicht bereit ist, diese Fesseln abzulegen.

Der Ruf "Lügenpresse" erscheint wie die westliche Variante des "Gott ist groß", das kein Attentäter zu schreien vergisst, bevor er sich und andere in die Luft sprengt. Warum muss Gott eigentlich immer groß sein? Was ist mit seiner Allmacht, wenn sie immer an eine Größe gekoppelt ist? Und warum kann dieser Gott beleidigt werden? Durch wen? Einen Menschen? Einen Ungläubigen sogar? Dann wäre dieser Mensch größer als der zu beleidigende Gott. Es stimmt etwas mit diesem Wahrheitsbegriff und auch mit diesem Gottesbegriff nicht.

Vielmehr scheint es, dass die alten Normen nicht mehr greifen, neue Fragen aber nicht formuliert werden können. Deshalb hält man fest an einer sich durch einen falschen Wahrheitsbegriff perpetuierenden Unterdrückung, hält fest an einer sich durch einen falschen Gottesbegriff als Destruktion manifestierenden Ideologie. Denn die Wahrheit der Wahrheit ist, dass sie in der Regel schmerzhaft ist, bevor sie frei macht.

Deshalb hatte das Bild der Seele, die aus dem toten Körper fährt, etwas Tröstliches, denn diese Seele brauchte nicht die Anerkennung des anderen in ihrer Wahrheit, sondern verschwand einfach im Dunkel des Krankenhausflurs, so wie wir alle eines Tages.

Alle Rechte am Text liegen beim Autor.

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