Volksbühne Berlin am Rosa-Luxemburg-Platz
 
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Der Idiot

von Fjodor M. Dostojewskij


BERT NEUMANNS NEUSTADT UND FRANK CASTORFS IDIOT Im Juni 2007 verschwindet das Theater mit Bühne und Zuschauerraum noch einmal unter der Neustadt. Der gesamte Theaterraum bekommt einen Überbau. Die vertrauten Konstellationen werden unsichtbar. Da, wo sonst die Bühne ist, steht das Hotel "Romantic World". Im ehemaligen Zuschauerraum befinden sich rund um eine große Freitreppe Läden, Kneipen, ein Frisörsalon. Um das Hotel stehen mehrstöckige Häuser. Die Zuschauer schlendern durch die Stadt ins Hotel. Dort sitzen sie in den Zimmern und auf den Balkonen und schauen sich das Stadtleben an. Dabei haben sie die Möglichkeit, die Vorgänge auf großen Videoleinwänden, auf den Hotelfernsehern oder live an den verschiedenen Spielorten zu beobachten. Man kann aber unmöglich alles gleichzeitig sehen. Das führt zu einer Art strukturellen Überforderung beim Beobachten. Kein Zuschauer sieht alles. Wie im Leben. Und das eherne Theatergesetz, dass man dem Zuschauer etwas vorspielt, das man anschauen kann, wird zumindest teilweise ignoriert. Wir bekommen zwar möglicherweise einen vollständigen Theaterabend geboten, der auch ziemlich lange dauert, wir können aber immer nur Bruchstücke wahrnehmen. Dieses Spiel mit den Theaterregeln und deren teilweise Substitution durch moderne Medientechnologie war als Experiment gedacht. Es ist aber "immer noch Stadttheater", meint Castorf. Für das auch im unüberschaubaren Alltag überforderte Publikum stellte die Versuchsanordnung von Neumann und Castorf offenbar kein zusätzliches Problem dar. Und so wurde dieses Projekt zu einem der größten und unumstrittensten Erfolge in der Volksbühnengeschichte. Auf nachhaltigen Wunsch ihres Publikums nimmt die Volksbühne erneut eine Neustadt-Staffel ins Programm. Das ist aufwendig und wird die Nachfrage wieder nicht völlig befriedigen können: Es gibt nur 230 Plätze im Hotel. Der Medienphilosoph Boris Groys hat die Versuchsanordnung "Neustadt" zum Ausgangspunkt einer Theorie der Kunst gemacht, die er in "lettre international" vorstellte. Dort hieß es: "Die Proliferierung des Videobildes oder des Filmbildes ist ein Verfahren zur Erzeugung eines schlechten Gewissens beim Zuschauer - des Gefühls, er habe etwas übersehen, und er trage zum Teil Verantwortung dafür. ... Der Zuschauer wird mit seinem Unvermögen konfrontiert, das was ihm gezeigt wird, zu überblicken. Das ist eine der fundamentalen Verschiebungen, die wir im Kunstsystem unserer Zeit beobachten können: Die Herstellung der Unübersichtlichkeit und des schlechten Gewissens." Und das scheinen wir zu brauchen. Groys geht aber noch weiter: "Es gibt noch eine Dimension bei diesem real-time-Video-Theater. Die Übertragung der realen Ereignisse auf die Leinwand bedeutet immer so etwas wie ihre Übertragung ins Jenseits. ... Wir gehen quasi davon aus, dass das, was auf der Leinwand gezeigt wird, post mortem gezeigt wird. Der Schauspieler wird auf der Leinwand als schon tot empfunden, und was von ihm übriggeblieben ist, ist die virtuelle Gestalt, in die er verwandelt wird." Aber diese medialen Konfrontationen sind nur die eine Seite, die andere Seite ist der 900 Seiten dicke Roman Dostojewskijs, der in der Neustadt auf eine wundersame, fast naive Weise zum Leben erweckt wird, die uns zu Zeugen von wirklichen Vorgängen zu machen scheint. Kritiker sprachen von einer Wiederkehr und Rehabilitierung des Naturalismus hinter der vierten Wand und waren sich mit den Zuschauern einig: "Castorf geht ans Herz". DER FILM, DIE STADT UND DER IDIOT "Der Idiot" erschien 1867, 6 Jahre nach "Erniedrigte und Beleidigte" und 4 Jahre vor den "Dämonen". Und wieder ist alles anders. Nicht die Frage, wie viel Verbrechen ist nötig, um Russland oder die Welt zu retten und auch nicht die Frage nach den individuellen Kosten individueller Strategien im Krieg aller gegen aller, bilden den Ausgangspunkt, sondern - laut Dostojewski selbst - "die Darstellung eines wahrhaft vollkommenen und schönen Menschen". Das ist in der Tat eine Person, wie wir sie bei Dostojewski noch nie zu sehen kriegten, eine Person, die in seinem Werk, dessen Helden regelmäßig gewalttätig und zutiefst unvollkommen sind, singulär ist. Angesichts finsterer Zeiten und der in "Erniedrigte und Beleidigte" bereits ausführlich thematisierten Ausweglosigkeit des bloß ökonomischen Zweckdenkens, das selbst in die privatesten Zusammenhänge reicht, mal etwas Positives. Unsere kleine Stadt, in die wir uns vor den gegenwärtigen unabsehbaren weltpolitischen Umbrüchen flüchten, soll schöner und besser werden. Dostojewskis Held, der Fürst Myschkin, oder "Fürst Christus", wie Dostojewski ihn im Entwurf nennt, scheint wie kein zweiter geeignet für eine solche Perspektive. Er ist ein Mensch, dem alle Herzen zufliegen, der unfähig zu Intrige und Misstrauen, herrschaftsfreie Kommunikation und Nächstenliebe nicht propagiert und von andern fordert, sondern selbst so konsequent und ernsthaft wie möglich praktiziert. Ein Humanist wie aus dem Bilderbuch, und damit leider ein Idiot, naiv und ahnungslos, für jedes Kompetenzteam ungeeignet. Und schon ist das Positive, auf das alle warten, wieder futsch. "Man hörte Lachen" ist eine häufig wiederkehrende Reaktion auf das Verhalten des Fürsten. Er ist "ein emphatischer Schriftsteller ohne Buch" (Boris Groys), der wie Jesus sein Wandeln unter den Menschen, seine Sensibilität für ihr Schicksal und ihre Leiden, nie als Recherche zu einem Roman dem Verwertungsprozess zuführen würde. Seine konsequente romantische Empfindsamkeit, offenbar die Nebenwirkung einer Epilepsie-Therapie in der aufgeklärten Schweiz, wo später auch Lenin viel lernte, macht ihn zum Katalysator für Verhaltensweisen in seiner Umgebung, die gleichermaßen die westliche Moral und die Logik der Ökonomie hinter sich lassen. Völlig anders als bei den "Erniedrigten", wird hier "der Bankrott der Ökonomie als eines allgemeingültigen Denkmodells auf allen Ebenen vorgeführt." (Ulrich Schmidt). Die Menschen, mit denen der Idiot in Berührung kommt, erweisen sich allesamt als resistent gegen Kosten-Nutzenrechnungen und durchlöchern die Rationalität der europäischen Vernunft. Freiheit führt bei ihnen nicht zum sittlichen Handeln, sondern dazu, gegen den eigenen Vorteil anzugehen, den Schmerz zu suchen, sein Geld zu verbrennen, Nihilist, Mörder und Selbstmörder zu werden. Sie erfüllen ein Programm, das Dostojewski in seinem "Kellerloch" ein paar Jahre vorher beunruhigend schlüssig entwickelt hat: "Die ganze Kraft des Menschen liegt darin zu beweisen, dass er keine Schraube sondern ein Mensch ist... Deshalb tun wir nicht das, was man von uns erwartet, sondern etwas Unsinniges." Der eigene Vorteil kann auch darin bestehen, dass man auf ihn verzichtet. Dieses russische (?) Streben nach dem "selbstständigen Wollen" lässt sich genauso schwer mit dem Geschäftsdenken verbinden, das laut neuer "Sicherheitsstrategie" der USA zur einzig erlaubten Lebensform werden soll, wie mit der zugehörigen Kantischen Freiheit, seine Pflicht zu tun. Dass ausgerechnet der "impotente Fürst Christus", als Nachfolger des Gottes, der Mensch wurde und starb, den Menschen unabsichtlich zu diesem Freiheitstaumel verhilft, ist die Pointe dieser Geschichte, deren Vermarktbarkeit außerhalb der Literatur und des Theaters sich in Grenzen halten dürfte. Es ist wieder keine Konsolidierung zu erwarten. Die neue Dostojewski-Inszenierung wird anders sein, aber nicht weniger beunruhigend als die letzte. Frank Castorf wird in unserer kleinen Stadt nicht die ganze Wahrheit zeigen können, nicht mal den wunderbaren in sich geschlossenen Aufbau des Romans. Er will es auch nicht. Denn die Stadt liefert immer nur Fragmente. Hinter den Fenstern und durch die Augen der Kameras sieht man nur Ausschnitte. Über den Teil, den man nicht sieht, kann man lediglich Vermutungen anstellen genauso wie in unserem Alltag, in der Politik und im Krieg.
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