Volksbühne Berlin am Rosa-Luxemburg-Platz
 

Der Selbstmörder

Dimiter Gotscheff inszeniert Nikolaj Erdmans satirische Komödie


Gotscheff inszeniert Nikolaj Erdmanns Komödie Sie reden in Floskeln. Sie sind Kopien vergangener ideologischer Formate. Sie behaupten noch, ihr eigener Herr zu sein, passten sich in Wirklichkeit längst den herrschenden Zuständen an und wurden zur manövrierfähigen Masse. Sie wären zwar gerne Kriegs-, Kollektivierungs- oder Privatisierungsgewinnler, sind aber nur Menschen nach dem Umbruch, die ihre Pfründe sichern müssen. Da liegt ihre Gier. Dimiter Gotscheff zelebriert diese Typen und sucht darin genau das menschliche Material, das sich gerade nach gesellschaftlichen Umwälzungen immer besonders deutlich zeigt, egal, ob diese nun rot oder schwarz, orange oder braun lackiert sind. Im Moskau des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts, als künstlerische Avantgarde und politische Zustände so heftig aufeinander prallten wie nie mehr danach, durchblickten der Autor Nikolaj Erdman und seine Zeitgenossen jene Verhältnisse sehr genau. Deswegen wurde nicht nur Mejerholds Inszenierung der Uraufführung des „Selbstmörders“ 1930 verboten. Die Akademie der Wissenschaften der UdSSR urteilte über das junge Talent Erdman: „In der Aufführung kommt in aller Deutlichkeit die erbärmliche reaktionäre Idee vom Ende aller menschlichen Individualität unter den Bedingungen der sowjetischen Gesellschaft zum Ausdruck“ und „Dieses Stück ist ein schädliches Stück, und zwar gerade deshalb, weil es so gut geschrieben ist“. Wo Gotscheff mit Tschechows „Iwanow“ aufhört, der aus dem großbürgerlichen, tätigen Leben in die Depression verfällt, dort beginnt er mit dem „Selbstmörder“. Die Helden der Arbeit sind heute die Mitarbeiter des Monats. Abermals liegt der gerechte Kampf, den sie weder richtig verstanden noch begonnen haben, in der Vergangenheit. In der Gegenwart werden sie beherrscht von den Spezialisten der Maschinen und Systeme, die mit ihrer Macht blockieren und nicht den geringsten Wert auf selbstbewusste Individuen legen. Das internationale oder auch innerbetriebliche Klima verrottet, es bleiben die schlechten Meinungen über ganze Abteilungen und Schichten, vorgetragen von Lautsprechern auf der Suche nach Anerkennung bei ihren Chefs oder Führern. Üble Nachrede erhöht die Konkurrenz, erzeugt Leistungsdruck, und genau darauf legt auch der Staat Wert. Denn die Unzufriedenheit der „Unterdrückten“, die ihnen das Gemeinwesen aufdrängt in Form dieser „blöden Verantwortlichen“, dieser “überbezahlten Versager“, führt zu einer Parteilichkeit, zu einem patriotischen Bewusstsein, das wiederum im großen Ganzen exakt in den Plan „der da oben“ passt. Die Antwort ist eine elende Opferolympiade, in der die Kontrahenten das System anerkennen, das ihnen ihre Wertlosigkeit bescheinigt. Und wir sind nicht die anderen. Indem das Böse in einer Komödie sitzt, wird es ärger, als es von der Tragödie dargeboten werden könnte. Denn die Komödie erfordert Distanz zu den eigenen Zuständen. Die Zähne, die wir bräuchten, sie zu bekämpfen, schlagen wir uns gegenseitig aus.
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